Blog • 24. September 2025
Klein anfangen, groß gewinnen
Blog • 24. September 2025
Klein anfangen, groß gewinnen
Ein Deep-Dive von Toni Haupt und Sven Henke (Lucke EDV) über die Realität der KI-Implementierung – ohne Hype, mit echten Zahlen
Ein Deep-Dive von Toni Haupt und Sven Henke (Lucke EDV) über die Realität der KI-Implementierung – ohne Hype, mit echten Zahlen
Die 80/20-Regel der KI-Integration: Warum weniger oft mehr ist
Stellen Sie sich vor: Der norwegische Staatsfonds – mit 1,5 Billionen Dollar der größte Staatsfonds der Welt – spart durch intelligente KI-Integration 213.000 Arbeitsstunden pro Jahr. Das entspricht etwa 100 Vollzeitstellen. Klingt nach Science Fiction? Ist aber Realität.
Die entscheidende Erkenntnis dabei: Sie haben nicht versucht, alles auf einmal zu revolutionieren. Stattdessen haben sie das Pareto-Prinzip angewandt – und genau das bestätigt auch McKinsey in einer aktuellen Studie mit über 280 Finance-Führungskräften:
80% des KI-Wertes werden in nur 20% der Geschäftsbereiche generiert.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache
- Banken mit fokussiertem Ansatz: ROI von über 20%
- Banken mit "Alles-auf-einmal"-Strategie: Magere 10% ROI
- Der Unterschied: Eine doppelt so hohe Rendite durch kluges Priorisieren
Drei Bereiche für sofortige Quick Wins
1. Dokumentenanalyse und -verarbeitung: Von Stunden zu Sekunden
Das Problem vorher: Analysten des norwegischen Staatsfonds mussten manuell Daten aus verschiedenen Quellen zusammentragen – ein zeitraubender Prozess, der hochqualifizierte Mitarbeiter in repetitiven Aufgaben gefangen hielt.
Die Lösung heute: KI-gestützte Systeme durchforsten Tausende von Dokumenten in Sekunden.
Praktisches Beispiel Wells Fargo:
- Herausforderung: 250.000 Lieferantenverträge verwalten
- Früher: Berater wurden engagiert, um spezifische Klauseln zu finden – wochenlange Arbeit
- Heute: "Zeige mir alle Verträge mit Preisanpassungsklauseln über 5%" – Antwort in unter 10 Sekunden
Das ist kein Hexenwerk, sondern intelligente Datenverarbeitung. Die Technologie heißt Retrieval Augmented Generation (RAG) und kann:
- Digitale Dokumente sofort verarbeiten
- Handschriftliche Dokumente (wie bei der Deutschen Rentenversicherung) erkennen
- Verschiedene Dokumenttypen verstehen und kategorisieren
2. Automatisierung repetitiver Kommunikationsaufgaben
First-Level-Support revolutionieren:
- Kundenanfrage: "Wie erhöhe ich mein Kartenlimit?"
- Früher: Mitarbeiter tippt Antwort, verliert sich vielleicht in anderen Gesprächen
- Heute: KI antwortet sofort mit Screenshot und Schritt-für-Schritt-Anleitung
Die E-Mail-Flut nach dem Urlaub bewältigen: Ein praktischer Ansatz, den jeder sofort umsetzen kann:
- Lokales Sprachmodell auf dem eigenen Rechner installieren (datenschutzkonform!)
- Nach dem Urlaub: "Analysiere alle E-Mails mit meinem Namen in Verbindung mit [wichtige Projekte]"
- Ergebnis: Strukturierte Zusammenfassung der wichtigsten Themen in Minuten statt Stunden
Meeting-Protokolle automatisieren:
- Aufzeichnung und Transkription von Meetings
- Automatische Extraktion von Action Items
- Zusammenfassung der Kernpunkte
- Wichtig: Datenschutz beachten! Einverständniserklärungen einholen
3. Betrugserkennung und Compliance: Von 30 Minuten auf 90 Sekunden
Case Study Inscribe (FinTech für Betrugsbekämpfung):
- Problem: Mitarbeiter brauchten 30 Minuten für die Betrugs-Prüfung eines Kreditantrags
- Lösung: KI checkt Dokumente auf Unstimmigkeiten (gefälschte Gehaltsabrechnungen, manipulierte PDFs)
- Ergebnis: Prüfung in 90 Sekunden – 20-mal schneller
Die KI erkennt:
- Digitale Artefakte in nachträglich bearbeiteten Dokumenten
- Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Dokumenten
- Muster, die auf Betrug hindeuten
Der "Human in the Loop"-Ansatz: Warum Menschen unverzichtbar bleiben
Ein kritischer Erfolgsfaktor, der oft unterschätzt wird: Die besten KI-Systeme arbeiten MIT Menschen, nicht GEGEN sie.
So funktioniert's in der Praxis:
Phase 1: Die Testwochen (Woche 1-2)
- 10 Mitarbeiter arbeiten intensiv mit dem System
- Dokumente werden eingespeist, Ergebnisse überprüft
- Feedback-Loops etablieren
Phase 2: Das Feintuning (Woche 2-3)
- Sonderfälle identifizieren und dem System beibringen
- Parameter anpassen
- Edge Cases dokumentieren
Phase 3: Der Produktivbetrieb (ab Woche 4)
- System läuft mit 90-95% Genauigkeit
- Kontinuierliche Verbesserung durch Feedback
- Bei Auffälligkeiten: System stoppt, Mensch übernimmt
"Eine Fehlerquote von 5%? Das ist wie ein normaler Mitarbeiter, der auch mal einen Fehler macht. Der Unterschied: Die KI verarbeitet 50.000 statt 500 Dokumente am Tag." - Toni Haupt
Die vier Dimensionen erfolgreicher KI-Bewertung
Sven Henke betont: Eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung reicht nicht aus. Erfolgreiche Unternehmen bewerten KI-Projekte mehrdimensional:
1. Effizienzgewinn
- Wie viele Arbeitsstunden sparen wir?
- Welche Prozesse werden beschleunigt?
- Wo entstehen neue Kapazitäten?
2. Umsatzgenerierung
- Welche neuen Services können wir anbieten?
- Wie verbessert sich die Kundenzufriedenheit?
- Wo entstehen neue Geschäftsmöglichkeiten?
3. Risikominimierung
- Werden Fehlerquoten reduziert?
- Verbessert sich die Compliance?
- Sinkt das operative Risiko?
4. Geschäftsagilität
- Wie schnell können wir auf Marktänderungen reagieren?
- Wie flexibel ist das System anpassbar?
- Wie skalierbar ist die Lösung?
Die versteckte Kostenfalle: Wartung und Skalierung
Die unbequeme Wahrheit: Unternehmen unterschätzen systematisch die Wartungskosten.
Beispiel Meeting-Transkription:
- Verlockende Idee: Alle Teams-Meetings automatisch transkribieren
- Die Realität:
- Lizenzkosten pro Nutzer schnell bei 10€+ monatlich
- Datenschutz-Compliance erforderlich
- Einverständniserklärungen aller Teilnehmer nötig
- Speicherkosten für Aufzeichnungen
Die clevere Alternative:
- Lokale Lösungen für einzelne Use Cases
- Schrittweise Skalierung nach bewiesenen Erfolgen
- Open-Source-Modelle für unkritische Anwendungen
Wer führt das Projekt? Die Gretchenfrage der KI-Integration
Die McKinsey-Erkenntnis:
Projekte, die von Business Units getrieben werden, sind erfolgreicher als rein IT-getriebene Initiativen.
Aber Vorsicht vor diesen Fallen:
Wenn nur die IT führt:
- "Wir haben jetzt KI implementiert, ihr könnt 30% schneller arbeiten"
- Problem: Bildet den realen Workflow nicht ab
- Ergebnis: Geringe Akzeptanz
Wenn nur das Business führt:
- "Wir brauchen KI für alles!"
- Problem: Technische Machbarkeit nicht geprüft
- Ergebnis: Explodierende Kosten, unrealistische Erwartungen
Die Erfolgsformel:
Business definiert: WAS und WARUMIT definiert: WIE und WOMITGemeinsam: Prototypen entwickeln, testen, skalieren
Der 12-Wochen-Sprint zur KI-Integration
Wochen 1-3: Grundlagen schaffen
- Use Case Definition: Einen konkreten, messbaren Prozess wählen
- Stakeholder Alignment: IT und Business an einen Tisch
- Compliance Check: Datenschutz, Betriebsrat, rechtliche Rahmenbedingungen
- Testgruppe: 10 motivierte Mitarbeiter identifizieren
Wochen 4-8: Pilotphase
- Woche 4: System-Setup und erste Tests
- Woche 5-6: Intensives Human-in-the-Loop Training
- Woche 7-8: Feintuning basierend auf realen Daten
- Kontinuierlich: Dokumentation von Erfolgen und Herausforderungen
Wochen 9-12: Optimierung und Skalierung
- Woche 9-10: Performance-Messung gegen definierte KPIs
- Woche 11: Rollout-Plan für weitere Abteilungen
- Woche 12: Präsentation der Ergebnisse und Go/No-Go Entscheidung
Praktische Tipps für den Start
1. Wählen Sie den richtigen ersten Use Case
- Gut: Dokumentensuche in der Rechtsabteilung
- Besser: Automatische Kategorisierung eingehender Kundenanfragen
- Am besten: Der Prozess, über den sich alle beschweren und der messbare Zeit kostet
2. Nutzen Sie vorhandene Tools intelligent
- Claude für Recherche und Textanalyse
- ChatGPT für kreative Aufgaben
- Lokale Modelle für sensible Daten
- Spezialisierte Tools für spezifische Aufgaben (OCR, Übersetzung, etc.)
3. Messen Sie den Erfolg richtig
- Nicht: "Die KI ist installiert"
- Besser: "Wir sparen 20 Stunden pro Woche"
- Am besten: "ROI von 150% in 6 Monaten bei 95% Mitarbeiterzufriedenheit"
Das europäische Paradox als Chance
Die strengen Datenschutzanforderungen in Europa werden oft als Hindernis gesehen. Doch sie können ein Vorteil sein:
"Die Projekte, wo ganzheitlicher gedacht wird, sind zwar langsamer in der Umsetzung, aber erfolgreicher im Ergebnis." - Sven Henke
Warum?
- Gezwungen zu durchdachten Konzepten
- Stabilere Systeme durch sorgfältige Planung
- Höhere Akzeptanz durch Transparenz
- Nachhaltiger Wettbewerbsvorteil durch Compliance
Die Zukunft ist schon da – sie ist nur ungleich verteilt
Während Sie diesen Artikel lesen, spart irgendwo eine KI gerade hunderte von Arbeitsstunden. Die Frage ist nicht mehr, ob Sie KI einsetzen sollten, sondern wo und wie Sie anfangen.
Die drei wichtigsten Takeaways:
- Starten Sie klein, aber starten Sie: Ein erfolgreicher Use Case ist besser als zehn geplante Revolutionen
- Menschen und Maschinen sind Partner: Der Human-in-the-Loop-Ansatz ist kein Kompromiss, sondern die Erfolgsformel
- Messen Sie mehrdimensional: Effizienz ist wichtig, aber Agilität und Risikominimierung sind es auch
Der nächste Schritt
Identifizieren Sie noch heute den einen Prozess in Ihrem Unternehmen, der:
- Täglich Zeit kostet
- Klar definierte Regeln hat
- Messbare Ergebnisse produziert
- Von Mitarbeitern als "nervige Routine" bezeichnet wird
Das ist Ihr perfekter KI-Startpunkt. Nicht die Mondlandung, sondern der erste kleine Schritt.
Denn wie Toni Haupt treffend sagt: "Warum soll ich das Ding einen Tolkien-Roman schreiben lassen? Es geht um Datenverarbeitung – und dafür wurden diese Systeme gemacht."
Über die Autoren
Toni Haupt ist Executive Expert bei der Lucke EDV GmbH und spezialisiert auf die praktische Implementierung von KI-Lösungen in Unternehmen.
Sven Henke ist Geschäftsführer der Lucke EDV GmbH und bringt jahrelange Erfahrung aus dem Banking- und Finance-Sektor in die Digitalisierungsprojekte ein.
Dieser Artikel basiert auf der Podcast-Episode "KI-Agenten und Automatisierung in der Praxis" und wurde mit aktuellen Studienergebnissen von McKinsey, BCG und realen Implementierungsbeispielen angereichert.
Weiterführende Ressourcen
Artikel Details
- Veröffentlicht
- 24. September 2025
- Lesezeit
- ca. 5 Min.